In den bisherigen Folgen haben wir gesehen, wie Deutschland seit der Kaiserzeit den Islam als strategische Waffe entdeckte und wie die Nationalsozialisten diese Politik perfektionierten. Jetzt erreichen wir den Höhepunkt dieser Entwicklung: Die Jahre, in denen aus Propaganda bittere Realität wurde.
Es ist die Geschichte eines Mannes, der von Jerusalem über Bagdad und Teheran schließlich nach Berlin kam, um dort zum engsten Partner Hitlers zu werden: Amin el-Husseini, der Mufti von Jerusalem. Es ist die Geschichte luxuriöser Villen im Herzen des Nazi-Regimes, muslimischer SS-Divisionen und der aktiven Beteiligung an der Planung des Holocaust.
Die Flucht nach Berlin
Am 6. November 1941 landete ein deutsches Flugzeug auf dem Berliner Flughafen Tempelhof. An Bord befand sich ein Mann, der die Geschichte des Nahen Ostens für Jahrzehnte prägen sollte: Amin el-Husseini, der Großmufti von Jerusalem. Seine Reise von Palästina nach Berlin hatte über den Irak und den Iran geführt – überall war er vor den vorrückenden Alliierten geflohen.
Die deutsche Hauptstadt empfing ihn mit offenen Armen. El-Husseini war nicht irgendein Flüchtling, er war ein strategischer Partner, auf den das Nazi-Regime große Hoffnungen setzte. In den Augen der deutschen Führung verkörperte er die Möglichkeit, die gesamte muslimische Welt für deutsche Ziele zu mobilisieren.
Bereits am Tag seiner Ankunft wurde dem Mufti eine Villa in Berlin-Zehlendorf zur Verfügung gestellt – die Villa in der Goethestraße 27, die heute noch steht. Sie diente ihm gleichzeitig als Wohnsitz und Büro. Es war der Beginn einer fast vierjährigen „Freundschaft“, die zu den verhängnisvollsten Allianzen der Weltgeschichte gehört.
Das erste Treffen mit Hitler
Am 28. November 1941, nur drei Wochen nach seiner Ankunft, wurde el-Husseini in der Neuen Reichskanzlei von Adolf Hitler empfangen. Es war ein Treffen, das beide Männer lange herbeigesehnt hatten: die Begegnung zweier radikaler Antisemiten auf höchster Ebene.
Dem Treffen wohnten außerdem Reichsaußenminister Ribbentrop, Nahostexperte Fritz Grobba, ein Protokollant und zwei deutsche Übersetzer bei. Der Mufti hatte sich ein pompöses Zeremoniell erhofft und wurde nicht enttäuscht. In seinen Memoiren beschrieb er später detailliert den Prunk des Empfangs: „Ich erwartete nicht, dass mein Empfang in der berühmten Kanzlei ein offizieller sein würde, sondern ein privates Treffen mit dem Führer. Als ich aber auf dem weiten Platz vor der Kanzlei aus dem Auto stieg, war ich überrascht vom Klang einer Militärkapelle und einer Ehrengarde von etwa zweihundert deutschen Soldaten.“
Doch der Beginn des Treffens war von einem peinlichen kulturellen Missverständnis geprägt. Hitler vermied es, die ausgestreckte Hand des Mufti anzunehmen. Außerdem weigerte sich der „Führer“, mit seinem Gast gemäß arabischer Tradition Kaffee zu trinken. Als ein Dolmetscher vorsichtig auf die arabischen Gepflogenheiten hinwies, explodierte Hitler: Er lasse es nicht zu, „dass überhaupt jemand im Hauptquartier Kaffee trinke.“ Er ließ seinen verblüfften Gast stehen und verschwand wutschnaubend für einige Minuten. Als er zurückkehrte, ließ er el-Husseini durch einen SS-Mann ein Glas Limonade bringen.
Gemeinsame Feinde, gemeinsame Ziele
Nach diesem bizarren Auftakt verlief das Gespräch harmonischer. Der Mufti bedankte sich für die Ehre des Empfangs und versicherte Hitler der Bewunderung durch die gesamte arabische Welt. Die Menschen dort blickten, so el-Husseini, „voll Vertrauen auf den Führer, der einen Kampf gegen die gleichen drei Gegner führe, die auch die Feinde der Araber seien, nämlich die Engländer, die Juden und die Bolschewisten.“
Diese Formulierung zeugte von el-Husseinis perfektem politischen Opportunismus. Noch Anfang 1941 hatte er sich über seinen Sekretär darum bemüht, diplomatische Beziehungen zwischen dem Irak und der Sowjetunion anzuknüpfen. Jetzt, im November, erklärte er den Bolschewismus zum Erzfeind der Araber.
Hitler war von seinem Gast angetan. Allerdings weigerte er sich, eine schriftliche Garantie für die arabische Unabhängigkeit zu geben, um die el-Husseini gebeten hatte. Für diese Art von Erklärungen sei es noch zu früh, meinte Hitler. Stattdessen versicherte er dem Mufti seinen „kompromisslosen Kampf gegen die Juden“, der auch die Juden der arabischen Länder einschließe.
Leben im Luxus
Was folgte, waren fast vier Jahre eines luxuriösen Lebens im Herzen des Nazi-Regimes. El-Husseini erhielt monatlich 90.000 Reichsmark aus den Kassen des Auswärtigen Amtes – einen erheblichen Teil davon in fremden Währungen. Neben seiner Villa in Berlin-Zehlendorf standen ihm weitere Residenzen in Zaue, Oybin bei Zittau und zwei Häuser in Pieskow zur Verfügung.
Er hielt sich jede Woche ein bis zwei Tage in Berlin auf und bewohnte während dieser Zeit eine Suite im Hotel Adlon. Die Verpflegung ging zu Kosten des Auswärtigen Amtes. Noch im April 1945, als Berlin bereits in Trümmern lag, erhielt der Mufti 50.000 Reichsmark vom Auswärtigen Amt.
Ein SS-Verbindungsoffizier, Hans-Joachim Weise, war rund um die Uhr für seine Sicherheit verantwortlich und begleitete ihn auf allen Besuchen und Reisen in Deutschland und Italien. El-Husseini bewegte sich frei in den höchsten Kreisen des NS-Staates und wurde regelmäßig von Himmler, Ribbentrop und anderen Nazi-Größen empfangen.
Der Konkurrenzkampf mit al-Gailani
Doch das Paradies hatte auch seine Schattenseiten. Am 21. November 1941, nur zwei Wochen nach el-Husseinis Ankunft, traf auch Rashid Ali al-Gailani in Berlin ein – der ehemalige irakische Ministerpräsident, der ebenfalls vor den Alliierten geflohen war. Von nun an gab es zwischen den beiden arabischen Führern ständige Spannungen.
Jeder versuchte, mit den Deutschen getrennt zu verhandeln, um die Anerkennung seiner persönlichen Ansprüche zu erlangen. Al-Gailani fand zunächst Unterkunft in derselben Villa wie el-Husseini, was die Konkurrenz nur anheizte. Der Mufti, der einen zeitlichen Vorsprung hatte, nutzte jede Gelegenheit, um seine Position gegenüber seinem Rivalen zu stärken.
El-Husseini erwies sich als Meister der Intrige. Er verstand es, die Spannungen zwischen Himmler und Ribbentrop zu nutzen und von beiden Geld zu beziehen. Schließlich setzte er sich durch: Ende 1942 wurde Fritz Grobba, der al-Gailani unterstützt hatte, aus dem Auswärtigen Amt gedrängt. Al-Gailani verlor seinen Einfluss.
Die SS-Division „Handschar“
Der größte „Erfolg“ des Mufti war seine Rolle bei der Aufstellung der 13. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division „Handschar“, der ersten muslimischen SS-Division der Geschichte. Sie bestand aus bosnischen Muslimen und wurde 1943 aufgestellt.
Heinrich Himmler hatte erkannt, dass er für seine Kriegsziele mehr Soldaten brauchte. In seiner Not lockerte er die strengen Rassengesetze der SS und erklärte die Muslime zu „rassisch wertvollen Völkern Europas“. Aus Muslimen wurden kurzerhand „Muselgermanen„.
El-Husseini übernahm die ideologische Betreuung der Division. Es wurde vereinbart, dass der Nationalsozialismus als „völkisch bedingte deutsche Weltanschauung“ und der Islam als „völkisch bedingte arabische Weltanschauung“ gelehrt werden sollten – unter Herausstellung der gemeinsamen Feinde: Judentum, Anglo-Amerikanismus, Kommunismus, Freimaurerei und Katholizismus.
Der Mufti besuchte regelmäßig das Militärlager in Potsdam, wo die muslimischen Rekruten ausgebildet wurden. Später wurde auch ein kleines Hotel in der brandenburgischen Stadt Guben in ein Imam-Institut umgewandelt. Bei der Eröffnung am 21. April 1944 wies el-Husseini auf die Pflicht zur „Vertiefung und Stärkung der Zusammenarbeit mit Großdeutschland“ hin.
Hitler-Kult in muslimischen Uniformen
Die ideologische Indoktrinierung erreichte groteske Ausmaße. Die muslimischen SS-Soldaten mussten vorgegebene Fragen und Antworten über Hitler auswendig lernen. Zu den „größten bisherigen geschichtlichen Verdiensten“ Hitlers zählte demnach: „Er rettete sein Volk vom Untergang und beseitigte die Feinde wie aus dem Lande so auch von den Grenzen des Landes. Außerdem baute er viele Auto-Straßen und verschiedene Gebäude.“
Während eines politischen Kurzlehrgangs Ende März 1944 wurden Vorträge mit Titeln wie „Nationalsozialismus und Islam“, „Das Leben unseres Führers“ oder „Der Sinn dieses Krieges“ abgehalten. Auf die Frage nach Hitlers Erkenntnissen in Wien antwortete ein SS-Sturmmann: „In Wien lernt der Führer den Arbeiter und die Arbeit auf einer Seite kennen, und auf der anderen Seite die marxistische Idee. Da beginnt er erst die Juden zu hassen.“
Die Gründe für den gemeinsamen Kampf von Nationalsozialismus und Islam beantwortete ein Rottenführer so: „Sie haben die gemeinsamen Feinde: den Bolschewismus, das Judentum, die Angloamerikaner, die Freimaurer und den politischen Katholizismus.“
Divisionskommandeur Sauberzweig berichtete im April 1944 euphorisch, seine Rekruten nähmen „nur zu gern nationalsozialistische Lehren“ an. Er sah sich in seiner Arbeit schon so weit, „dass die Muselmanen, SS-Männer der Division und Zivilisten, beginnen, in unserem Führer die Sendung eines 2. Propheten zu sehen.“
Aktive Beteiligung am Holocaust
Der Mufti begnügte sich nicht mit Propaganda und Rekrutierung. Er beteiligte sich aktiv an der Planung und Durchführung des Holocaust. Wiederholt intervenierte er, um jüdische Fluchtwege zu blockieren. Er protestierte gegen Pläne, jüdische Kinder aus der Slowakei, Polen, Ungarn und Bulgarien nach Palästina reisen zu lassen. Stattdessen empfahl er, sie in die Gaskammern zu schicken oder, in seinen eigenen Worten, dorthin zu bringen, „wo sie einer starken Kontrolle unterliegen, z.B. nach Polen.“
Ende 1942, als Rumänien 80.000 Juden gegen Zahlung einer Kopfprämie nach Palästina auswandern lassen wollte, griff el-Husseini erneut ein, um das Vorhaben zu vereiteln. In einem Gespräch mit SS-Obergruppenführer Gottlob Berger äußerte er sich erfreut, „dass sein langjähriger Wunsch, einen Stoßtrupp nach Palästina zu entsenden, nunmehr in Erfüllung gehe.“
Unter keinen Umständen dürften Juden aus dem Machtbereich der Nationalsozialisten nach Palästina gelangen, argumentierte er. Sie seien, wie er meinte, „in Polen besser aufgehoben.“
Das Ende in Berlin
Als die Bombenangriffe auf Berlin 1945 intensiver wurden, zog sich el-Husseini zunächst nach Linz und dann nach Bad Gastein zurück. Am 7. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, floh er nach Bern. Die Schweizer Behörden lieferten ihn prompt an die Franzosen aus, die ihn in einer Villa in Louvecienne bei Paris unterbrachten.
Wider Erwarten unternahm die britische Regierung keinerlei Anstrengungen, um eine Auslieferung zu erreichen. Im Gegenteil: Sie gab zu verstehen, der Mufti sei kein Kriegsverbrecher „im technischen Sinne des Begriffs“. Die Alliierten scheuten das Risiko eines Konflikts mit der arabischen Welt.
Die höchste Ebene der Kollaboration
Was wir in den Berliner Jahren el-Husseinis beobachten, ist Kollaboration auf höchster Ebene. Es war nicht nur die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und arabischen Nationalisten – es war die persönliche Allianz zwischen dem „Führer“ und dem höchsten islamischen Würdenträger Palästinas.
Diese Allianz hatte drei verhängnisvolle Dimensionen: Sie verlieh der deutschen Orientpolitik religiöse Legitimität. Sie ermöglichte die Rekrutierung von Muslimen für deutsche Kriegsziele. Und sie machte den Mufti zum aktiven Komplizen beim Holocaust.
Die Transformation des Islam
Besonders verheerend war die ideologische Transformation, die el-Husseini vorantrieb. Er missbrauchte seine religiöse Autorität, um den politischen Antisemitismus zu einer religiösen Pflicht umzudeuten. Der Kampf gegen die Juden wurde nicht mehr nur als nationaler Befreiungskampf verstanden, sondern als heiliger Auftrag.
Diese Sakralisierung der Politik sollte bis heute nachwirken. Indem el-Husseini den Judenhass als islamische Tugend darstellte, schuf er ideologische Grundlagen, die von späteren islamistischen Bewegungen übernommen werden sollten.
Die SS als multireligiöse Organisation
Die Aufstellung muslimischer SS-Divisionen markierte einen historischen Wendepunkt. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden Angehörige einer nichtchristlichen Religion systematisch in die Strukturen eines genozidalen Regimes integriert. Die SS, die sich als Elite der „arischen Rasse“ verstand, öffnete sich für Muslime – allerdings nur, um sie für ihre Vernichtungsziele zu instrumentalisieren.
Der verschwiegene Komplize
Nach 1945 wurde el-Husseinis Rolle systematisch verdrängt. Weder die Alliierten noch die entstehenden arabischen Staaten hatten ein Interesse daran, die Kollaboration mit den Nazis aufzuarbeiten. Der Mufti konnte ungestraft nach Kairo zurückkehren und dort bis zu seinem Tod 1974 eine einflussreiche politische Rolle spielen.
Diese Verdrängung hatte fatale Folgen. Sie ermöglichte es, die ideologischen Grundlagen, die el-Husseini geschaffen hatte, unbehelligt weiterzutragen. Der religiös legitimierte Antisemitismus, den er in Berlin entwickelt hatte, konnte sich in der arabischen Welt ungestört ausbreiten.
Das war die fünfte Folge von „Vergessene Allianzen“. Wir haben gesehen, wie aus der propagandistischen Zusammenarbeit eine persönliche Allianz zwischen Hitler und dem Mufti wurde – und wie diese Allianz zur aktiven Beteiligung am Holocaust führte.
In der nächsten Folge erfahren Sie, wie dieser Geist nach 1945 überlebte und welche Rolle ehemalige Nazis in der arabischen Welt spielten.
Quellen: Basierend auf „Der Mufti von Jerusalem“ (Gensicke), „Halbmond und Hakenkreuz“ (Mallmann/Cüppers), „Islam and Nazi Germany’s War“ (Motadel) und „Nazis, Islamic Antisemitism and the Middle East“ (Küntzel)