Folge 2: Djihad made in Germany – Der Erste Weltkrieg und die islamische Karte (1914-1918)


In der ersten Folge haben wir gesehen, wie Kaiser Wilhelm der Zweite und Max von Oppenheim die Grundlagen einer deutschen Orientpolitik legten, die den Islam als strategische Waffe gegen die Rivalen des Reiches einsetzen wollte.

Doch was waren das zunächst nur Träume und Pläne. Der wahre Test kam mit dem Ersten Weltkrieg. Plötzlich war Deutschland nicht mehr nur ein freundlicher Besucher im Orient, sondern Teil einer Allianz, die auf Leben und Tod kämpfte. Jetzt musste sich zeigen, ob Wilhelms Vision von den „300 Millionen Muslimen“ mehr war als nur eine Illusion.

Heute erzählen wir die Geschichte des ersten „Djihad made in Germany“ – ein Experiment, das die Welt verändern sollte und doch scheiterte. Aber nicht spurlos.


Der große Plan wird Realität

Als im August 1914 die Kanonen zu donnern begannen, war Max von Oppenheim bereit. Seit Jahren hatte er auf diesen Moment gewartet. Bereits im November 1914, nur drei Monate nach Kriegsbeginn, legte er Kaiser Wilhelm seinen 136 Seiten umfassenden Masterplan vor: „Die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“.

Es war ein atemberaubend ehrgeiziges Dokument. Von Oppenheim wollte nichts weniger als die komplette Neuordnung der islamischen Welt. Ägypten sollte den Briten entrissen werden. In Indien und Afghanistan sollten gewaltige Aufstände ausbrechen. Saboteure sollten den Suezkanal sprengen, Ölpipelines zerstören und Wasserleitungen vergiften.

Der Plan zielte nicht nur auf Soldaten, sondern ausdrücklich auch auf Zivilisten. Christen und Juden, die die Alliierten unterstützten, wurden zu legitimen Zielen erklärt. Deutschland gab damit seine Zustimmung zu einem Krieg gegen Nichtkombattanten und zur Verbreitung religiösen Hasses. Von Anfang an war die deutsche Strategie eng mit dem Völkermord an den Armeniern verknüpft.

Die Nachrichtenstelle für den Orient: Berlins Propagandafabrik

Um diesen gewaltigen Plan umzusetzen, gründete von Oppenheim in Berlin die „Nachrichtenstelle für den Orient“ – die erste systematische deutsche Propagandaorganisation für die islamische Welt. Sie wurde zu einer wahren Fabrik für revolutionäre Ideen.

Die Zahlen sind beeindruckend: Über tausend Publikationen in neun europäischen und zwölf nahöstlichen und asiatischen Sprachen wurden produziert. Allein 1914 und 1915 waren es vierhundert Veröffentlichungen. Drei Millionen Exemplare von Büchern, Zeitungen, Zeitschriften, Broschüren und Flugblättern wurden verteilt.

Die Titel sprachen für sich: „Sie betrügen Gott und die Ungläubigen“, „England und das Kalifat“, „Russische Massaker“ und „Djihad und französische Truppen“. Die Botschaft war einfach: Deutschland kämpfte für den Islam gegen seine christlichen Unterdrücker.

Die gefangenen Kämpfer: Ein Laboratorium der Bekehrung

Die wichtigsten Adressaten von Oppenheims Propaganda waren muslimische Kriegsgefangene, hauptsächlich Inder aus britischen Truppen und Nordafrikaner aus französischen Armeen. Etwa neunhundert von ihnen wurden in zwei speziellen Lagern bei Berlin interniert, jedes mit einer eigenen Moschee.

Diese Lager waren Laboratorien der Umerziehung. Die Gefangenen erhielten islamischen Religionsunterricht, vermischt mit intensiver deutscher Propaganda. Eine mehrsprachige Wochenzeitung namens „Al-Djihad“ sollte sie überzeugen, die Seiten zu wechseln.

Manche taten es tatsächlich. Als vierzehn muslimische Ex-Kriegsgefangene beschlossen, sich Deutschland anzuschließen, wurden sie wie Trophäen präsentiert. Der Kaiser selbst genehmigte ihren Transport nach Istanbul im luxuriösen Orient-Express. Um die Operation geheim zu halten, wurden sie als Akrobaten verkleidet.

Der große Tag: 14. November 1914

Am 14. November 1914 war es soweit. In der großen Moschee Mehmed des Eroberers in Istanbul wurde die Fatwa verlesen, die von Oppenheim seit Jahren geplant hatte. Der Sheikh ul-Islam, der höchste muslimische Geistliche des Osmanischen Reiches, rief im Namen des Sultan-Kalifen alle Muslime der Welt zum Djihad gegen Briten, Franzosen und Russen auf.

Es war eine spektakuläre Inszenierung. Sultan-Kalif Mehmed der Fünfte erhielt ein uraltes osmanisches Schwert. Großmufti Ürgüplü Khairi Bey entrollte, was als Mohammeds originale Kriegsflagge ausgegeben wurde. Der Sultan sprach zu den Truppen, während Kriegsminister Enver Pascha donnerte: „Dreihundert Millionen Muslime seufzen in Ketten“ und müssten befreit werden.

Eine große Menschenmenge, einige zu Pferd, marschierte von der Moschee zur deutschen Botschaft. Unter ihnen war sogar eine Frau, die Aisha, eine von Mohammeds Ehefrauen, darstellte. Auf dem Balkon standen der deutsche Botschafter und die vierzehn Ex-Kriegsgefangenen. Einer von ihnen, ein gewaltiger Marokkaner aus der französischen Armee, hielt eine Rede auf Arabisch, in der er Deutschland pries und behauptete, muslimische Soldaten würden in der französischen Armee schlecht behandelt.

Gewalt in Istanbul

Doch schon am ersten Tag zeigte sich, wohin religiöse Mobilisierung führen konnte. Unmittelbar nach der Zeremonie bildete sich ein Mob, der durch die Ausländerviertel Istanbuls zog. Das berühmte armenische Tokatlian-Hotel wurde verwüstet. Männer mit Haken an langen Stangen zertrümmerten Spiegel und Fenster. Andere zerschlugen die Tische aus Marmor.

Plötzlich zog einer der osmanischen Polizisten, die den Mob anführten, seine Pistole und schoss direkt in eine wertvolle englische Standuhr. Selbst Karl Schabinger, von Oppenheims Stellvertreter, war erschüttert von den gewalttätigen Leidenschaften, die entfesselt worden waren.

US-Botschafter Morgenthau beschrieb, wie Enver Pascha ihm noch am selben Tag versicherte: „Es wird keine Massaker geben.“ Diese Beteuerung weckte beim amerikanischen Diplomaten mehr Sorge als Beruhigung. Und seine Befürchtungen sollten sich bewahrheiten.

Die Theorie trifft auf die Realität

Die Fatwa war genau so formuliert, wie von Oppenheim es 1896 dem Kaiser vorgeschlagen hatte: Djihad sei die Pflicht aller Muslime, der Kalif könne ihn anordnen, der osmanische Herrscher sei der Kalif, also müssten alle Muslime ihm gehorchen.

Aber konnte diese Logikkette den Krieg für Deutschland und das Osmanische Reich gewinnen? Das Problem war, dass deutsche Experten fälschlicherweise annahmen, islamische Lehren würden von ihren Anhängern auch umgesetzt. In der Praxis sah es ganz anders aus.

Außerhalb des Osmanischen Reiches wurde die Fatwa des Sultans weitgehend ignoriert. Schiitische Muslime, die die Mehrheit im Irak und Iran bildeten, akzeptierten nicht die Behauptung, sie müssten einem sunnitischen osmanischen Herrscher gehorchen.

Selbst unter den sunnitischen Muslimen gab es viele, die von der Fatwa nie hörten oder gleichgültig blieben. Arabische Nationalisten stellten ethnische Überlegungen über die Loyalität zu den Osmanen. Viele folgten lokalen politischen oder religiösen Führern. Andere glaubten, ein nicht-arabischer Türke könne nicht der richtige Kalif sein. Wieder andere profitierten von der Zusammenarbeit mit den Kolonialmächten oder wollten einfach nicht ihr Leben oder Eigentum riskieren.

Medina und die gescheiterten Träume

Von Oppenheim versuchte verzweifelt, sein Propagandanetz auszubauen. Im November 1914 eröffneten die Deutschen einen Lesesaal in Medina, um Pilger auf dem Weg nach Mekka zu erreichen. Doch schon bald schloss ihn Sharif Hussein, der Herrscher des Gebiets – derselbe Hussein, der bereits in geheimen Gesprächen mit den Briten stand und sich im folgenden Jahr gegen die Osmanen wenden würde.

Diese Wende war symbolisch für das ganze Unternehmen. Anstatt Deutschland zu helfen, die arabische Welt zu revolutionieren, revolutionierten die Araber sie gegen Deutschland und seine osmanischen Verbündeten.

Das Echo in der ganzen Welt

Trotz aller Bemühungen blieb der große islamische Aufstand aus. In Indien gab es sporadische Unruhen, aber keine Revolution. In Nordafrika blieben die französischen Kolonien weitgehend ruhig. In Ägypten verstärkten die Briten ihre Kontrolle, anstatt sie zu verlieren.

Der einzige Ort, wo der deutsche Djihad wirklich Wirkung zeigte, war das Osmanische Reich selbst. Dort hielt er tatsächlich fast die gesamte Armee, einschließlich der arabischen Offiziere, und die muslimische Bevölkerung während des ganzen Krieges loyal.

Die verheerenden Nebenwirkungen

Doch der Preis für diese Loyalität war hoch. Der religiöse Fanatismus, den Deutschland entfesselt hatte, trug direkt zum Völkermord an den Armeniern bei. Was als strategische Waffe gegen äußere Feinde gedacht war, wurde zur Vernichtungswaffe gegen innere Minderheiten.

Deutsche Propaganda legitimierte die Gewalt gegen „Ungläubige“ und „Verräter“. Von Oppenheims Schriften sprachen explizit von „muslimischer Begeisterung, die an Wahnsinn grenzt“ – eine Begeisterung, die sich gegen alle richtete, die nicht ins Bild des treuen Muslim passten.

Das Ende des ersten Djihad

1918 war der erste deutsche Djihad gescheitert. Das Osmanische Reich lag in Trümmern. Von Oppenheims Traum von der Revolutionierung der islamischen Welt hatte sich als Illusion erwiesen. Doch die Ideen, die Methoden und vor allem die Überzeugung, dass der Islam als politische Waffe taugte, überlebten die militärische Niederlage.


Die Lehren des Scheiterns

Das Scheitern des ersten deutschen Djihad lehrte wichtige Lektionen – Lektionen, die spätere deutsche Politiker unterschiedlich interpretierten. Einige erkannten, dass religiöse Mobilisierung unberechenbar und gefährlich war. Andere glaubten, man habe nur die falschen Partner gewählt oder die falschen Methoden angewandt.

Die Unterscheidung zwischen der Theorie des Islam und dem tatsächlichen Alltagsleben der Muslime – eine Unterscheidung, die viele im Westen auch in Zukunft übersehen würden – wurde zum ersten Mal schmerzhaft deutlich. Religiöse Autorität bedeutete nicht automatisch politische Macht. Theologische Einheit bedeutete nicht gesellschaftliche Geschlossenheit.

Von Oppenheims Vermächtnis

Max von Oppenheim überlebte den Krieg und seine Niederlage. 1940, im Alter von 80 Jahren, sollte er noch einmal seine „Denkschrift zur Revolutionierung des Vorderen Orients“ an das Auswärtige Amt senden. Diesmal an die Nationalsozialisten. Die Grundidee war dieselbe geblieben: „In Palästina ist der Kampf gegen die Engländer und Juden mit voller Kraft wieder aufzunehmen.“

Die Institutionen, die er geschaffen hatte, die Netzwerke, die er geknüpft hatte, und vor allem die Überzeugung, dass Deutschland als muslimfreundliche Macht Verbündete gegen die westlichen Demokratien finden könnte – all das überdauerte das Kaiserreich und sollte in noch verheerenderer Form wiederkehren.

Was blieb von 1914?

Der erste Weltkrieg hatte Deutschland einen wichtigen Präzedenzfall geliefert: Es war möglich, religiöse Leidenschaften für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Es war möglich, lokale Konflikte zu internationalisieren. Und es war möglich, unter dem Banner der Religion Gewalt gegen Minderheiten zu legitimieren.

Diese Erkenntnisse sollten nicht vergessen werden. In den Schubladen der deutschen Außenpolitik lagerten nach 1918 nicht nur die Pläne von Oppenheims, sondern auch die Erfahrungen ihrer praktischen Umsetzung. Die nächste Generation deutscher Politiker würde diese Erfahrungen nutzen – und die Fehler des Kaiserreichs zu vermeiden suchen.

In unserer nächsten Folge werden wir sehen, wie die Weimarer Republik diese Kontinuitäten bewahrte und wie sich in den 1920er und frühen 1930er Jahren neue Verbindungen zwischen Deutschland und der islamischen Welt herausbildeten. Verbindungen, die den Boden für die verhängnisvolle Allianz zwischen Hitler und islamischen Bewegungen bereiten sollten.


Quellen: Basierend auf „Nazis, Islamists, and the Making of the Modern Middle East“ (Schwanitz/Rubin), „Halbmond und Hakenkreuz“ (Mallmann/Cüppers) und „Der Mufti von Jerusalem“ (Gensicke)