Folge 1: Der Kaiser und der Prophet – Deutsche Orientpolitik im Kaiserreich (1871-1914)


Willkommen zu „Vergessene Allianzen“ – einer Serie über die historischen Verbindungen zwischen Deutschland und der islamischen Welt. In den kommenden Folgen werden wir gemeinsam ein Kapitel deutscher Geschichte erkunden, das in unserem kollektiven Gedächtnis weitgehend verdrängt wurde.

Es ist eine Geschichte, die 1898 mit einer spektakulären Reise beginnt und sich über mehr als ein Jahrhundert bis in unsere Gegenwart zieht. Eine Geschichte von politischer Berechnung, religiöser Instrumentalisierung und verhängnisvollen Allianzen. Eine Geschichte, die uns heute mehr denn je zum Nachdenken anregen sollte.

Beginnen wir dort, wo alles anfing: Im deutschen Kaiserreich, als ein Kaiser sich anschickte, den Propheten für seine Zwecke zu vereinnahmen.


Bismarcks Vermächtnis und Wilhelms Revolution

Es war Otto von Bismarck, der eiserne Kanzler, der Deutschland zunächst einen anderen Weg wies. Für ihn war die Orientfrage simpel: Das Osmanische Reich war nicht wert, dass dafür auch nur ein einziger deutscher Soldat starb. „Deutschland ist meine Religion“, soll er gesagt haben, und meinte damit, dass das Reich seine Energie nach innen richten und sich nicht in orientalische Abenteuer verstricken sollte.

Doch als Kaiser Wilhelm der Zweite 1888 den Thron bestieg, änderte sich alles. Der junge Monarch träumte nicht von deutschen Grenzen, sondern von deutschen Welthorizonten. Er sah sich als neuen Alexander den Großen, als orientalischen Potentaten im Zeitalter der Moderne. Was Bismarck für Torheit hielt, wurde für Wilhelm zur Mission.

Der Mann, der dem Kaiser die Welt erklärte

Hinter dieser Wende stand ein Mann, dessen Name heute fast vergessen ist, der aber den Grundstein für alle späteren deutsch-islamischen Allianzen legte: Max von Oppenheim. Geboren 1860 in eine wohlhabende jüdische Bankiersfamilie aus Köln, die zum Katholizismus konvertiert war, wurde von Oppenheim zu Deutschlands führendem Nahostexperten.

Von Oppenheim war ein Abenteurer im besten Sinne des Wortes. Mit dem Geld seiner Familie bereiste er den Orient, studierte Arabisch in Ägypten und durchquerte die Wüsten zwischen Syrien und dem Persischen Golf. Als er zurückkehrte, hatte er nicht nur geografische Kenntnisse gesammelt, sondern eine politische Vision entwickelt, die das Deutsche Reich für Jahrzehnte prägen sollte.

1896 wurde von Oppenheim Attaché im deutschen Konsulat in Kairo. Von dort sandte er 467 Berichte nach Berlin – Berichte, die das Bild des Orients in deutschen Regierungskreisen fundamental veränderten. Ursprünglich sollte er den Islam als Bedrohung für deutsche Kolonien untersuchen. Stattdessen entdeckte er darin eine gewaltige Chance.

In seinem berühmten Bericht von 1898 über die „Panislamische Bewegung“ malte von Oppenheim ein verlockendes Bild: 300 Millionen Muslime weltweit könnten gegen Deutschlands Feinde mobilisiert werden. Man müsse nur den richtigen Hebel finden und dieser Hebel war der osmanische Sultan, der zugleich als Kalif der Muslime galt.

Die Reise, die alles veränderte

Im Oktober 1898 unternahm Kaiser Wilhelm eine Reise, die als reine Höflichkeitsvisite geplant war, aber zum Grundstein einer neuen deutschen Strategie wurde. Offiziell reiste der Kaiser ins Osmanische Reich, um die neue Erlöserkirche in Jerusalem einzuweihen. Tatsächlich aber wollte er eine Allianz mit dem Islam schmieden.

Die Reise war ein einziger Balanceakt zwischen christlicher Symbolik und islamischer Politik. In Bethlehem sprach der Kaiser davon, wie sehr ihn die Zwistigkeiten unter den Christen schmerzen würden, weil sie ein schlechtes Beispiel für den Rest der Welt abgäben. Gleichzeitig plante er, genau diese Christen – Briten und Franzosen – durch muslimische Aufstände zu bekämpfen.

Der Höhepunkt der Reise fand am 8. November 1898 in Damaskus statt, vor dem Grab des größten muslimischen Helden der Geschichte: Saladin. Derselbe Saladin, der 1187 bei Hittin die Kreuzfahrer vernichtet und Jerusalem erobert hatte. Derselbe Saladin, unter dessen Schwert Tausende von Deutschen gefallen waren.

Doch Kaiser Wilhelm störte sich nicht an dieser Ironie der Geschichte. Im Gegenteil: Er pries Saladin als „furchtlosen Ritter, der sogar seinen Feinden den rechten Weg zur Ritterlichkeit gelehrt“ habe. Und dann sprach er die Worte, die um die Welt gingen und auf Postkarten in alle muslimischen Länder versandt wurden: Er sei „allezeit ein Freund des Sultans und der 300 Millionen Muslime, die ihn als Kalifen verehren.“

Die Zahl, die zur Obsession wurde

Diese „300 Millionen“ – sie wurden zu Wilhelms Obsession. Dabei beruhte sie auf einer geschickten Manipulation durch osmanische Agenten. Scheich Abdullah, ein Geistlicher auf der Gehaltsliste des Sultans, hatte dem Kaiser eingeredet, 300 Millionen Muslime weltweit würden den osmanischen Herrscher als ihren spirituellen Führer ansehen. Wilhelm war so beeindruckt von dieser Zahl, dass er sie fortan ständig verwendete, wenn er von seinem Einfluss in der muslimischen Welt sprach.

Unter einfachen Muslimen entstanden daraus die wildesten Legenden. Kaiser Wilhelm wurde zu „al-Hajj Wilhelm“, dem christlichen Kaiser, der so bewegt von seinem Besuch war, dass er heimlich zum Islam konvertierte. An Lagerfeuern und auf Marktplätzen wurden immer neue Details zu dieser Geschichte hinzugefügt.

Wirtschaft und Eisenbahn: Die materiellen Grundlagen

Doch bei symbolischen Gesten blieb es nicht. Wilhelms Orientreise führte zu konkreten Geschäften: Deutschland erhielt den Auftrag zum Bau der Bagdadbahn, jener legendären Eisenbahnlinie, die das Osmanische Reich von Istanbul bis nach Mesopotamien durchziehen sollte.

Die Bagdadbahn wurde zum Symbol deutscher Ambitionen im Orient. 1906 gründete Deutschland die Deutsche Orientbank unter Führung der jüdischen Bankiers Eugen und Herbert Gutmann. Sie wurde zur führenden regionalen Bank der Welt, mit Projekten in Ägypten, Marokko, dem Sudan und dem ganzen Osmanischen Reich.

Bis zum Ersten Weltkrieg war Deutschland nach Großbritannien und Frankreich der drittwichtigste Handelspartner des Osmanischen Reiches. Die Deutschen verkauften nicht nur Güter, sondern auch Waffen und Know-how. Deutsche Offiziere bildeten osmanische Soldaten aus. Die Briten, voller Sorge über diese Entwicklung, sprachen bald von Offizieren, die „made in Germany“ seien.

Die Geburt der deutschen Orientalistik

Diese neue Orientpolitik brauchte auch wissenschaftliche Grundlagen. Um 1900 hatte Deutschland bereits 57 Professuren für Orientalistik an 21 Universitäten – mehr als jedes andere europäische Land. Studenten und Gelehrte strömten in diese neue Disziplin.

Es entstanden nicht nur wissenschaftliche Werke, sondern auch Romane, Reiseberichte und Übersetzungen. Der Orient wurde in Deutschland zu einem kulturellen Phänomen. Doch hinter all dem stand letztendlich die politische Vision von Oppenheims: der Islam als Waffe gegen Deutschlands Rivalen.

Die Grenzen einer Illusion

Allerdings übersahen Wilhelm und von Oppenheim entscheidende Schwächen ihrer Strategie. Der osmanische Kalif war bei weitem nicht so einflussreich, wie sie glaubten. In den arabischen Ländern war die Türkenherrschaft unbeliebt. Andere Mächte, vor allem Großbritannien und Frankreich, hatten ihre eigenen muslimischen Verbündeten.

Vor allem aber stellte sich eine praktische Frage: Wie sollte man die „muslimische Begeisterung, die an Wahnsinn grenzt“ – wie von Oppenheim es nannte – tatsächlich entfesseln? Wie sollte die theoretische Macht des Kalifats in reale Revolten umgewandelt werden?

Diese Fragen blieben zunächst unbeantwortet. Doch der Grundstein war gelegt. Als Kaiser Wilhelm 1900 von Oppenheim empfing und ihn für seine erfolgreiche Strategie lobte, war die deutsche Orientpolitik geboren.


Die Ironie der Geschichte

Zwanzig Jahre später sollte sich die Ironie dieser Politik zeigen. Als die Alliierten 1918 Damaskus eroberten, hob Lawrence von Arabien – ausgerechnet Lawrence! – den bronzenen Lorbeerkranz auf, den Kaiser Wilhelm an Saladins Grab niedergelegt hatte. Er sandte ihn als Kriegstrophäe nach London, wo er bis heute im Imperial War Museum zu sehen ist.

Doch das war nicht das Ende der Geschichte, sondern erst der Anfang. Die Grundmuster, die Wilhelm und von Oppenheim entwickelt hatten – die Instrumentalisierung des Islam für deutsche Zwecke, die Suche nach muslimischen Partnern gegen westliche Demokratien, die Überschätzung religiöser Bindungen – all das sollte in der deutschen Politik überdauern.

Was bleibt von Kaiser Wilhelms Vision?

Heute, mehr als ein Jahrhundert später, mögen uns die Träume Kaiser Wilhelms von einem deutschen Orient naiv erscheinen. Doch die Strategie, die er und von Oppenheim entwickelten, war keineswegs folgenlos. Sie schuf Präzedenzfälle, Denkweisen und Netzwerke, die weit über das Kaiserreich hinaus Bestand haben sollten.

Die 57 Orientalistik-Professuren, die Deutschland um 1900 hatte, bildeten Generationen von Experten aus, die später in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus Karriere machen würden. Die Kontakte zu islamischen Bewegungen, die das Kaiserreich knüpfte, sollten in den 1930er und 1940er Jahren eine verhängnisvolle Fortsetzung finden.

Und die Grundidee, dass Deutschland als Macht ohne koloniale Vergangenheit im Nahen Osten bei den Muslimen als natürlicher Verbündeter gelten könnte, sollte sich als erstaunlich langlebig erweisen.

In unserer nächsten Folge werden wir sehen, wie sich diese Ideen im Ersten Weltkrieg zum ersten Mal in der Praxis bewährten und wie Deutschland zum ersten Mal in der Geschichte einen „Djihad made in Germany“ zu organisieren suchte.


Quellen: Basierend auf „Nazis, Islamists, and the Making of the Modern Middle East“ (Schwanitz/Rubin), „Der Mufti von Jerusalem“ (Gensicke) und „Halbmond und Hakenkreuz“ (Mallmann/Cüppers)